Wir ziehen durch die Häuser ~ Haus 4: Ich und das Wir

Am schönsten ist es, wenn Mama und Papa beide da sind und ich mittendrin. Wir sind eine Familie, sagt Mama, das gefällt mir. Manchmal spielen wir, manchmal sitze ich auch nur auf ihrem Schoss und kuschle mich an sie. Dann ist die Welt für mich in Ordnung, egal wo ich bin. Ganz anders fühlt es sich an, wenn ich nachts erwache und nur ich bin da. Im Dunkeln kriecht die Angst unter der Decke hervor. Was ist, wenn sie mich vergessen oder absichtlich zurückgelassen haben? Was ist, wenn ich doch unsichtbar bin und alles andere nur geträumt habe? Ich verstecke mich mit Teddy unter meiner Kuscheldecke, das hilft manchmal. Oder ich höre sie nebenan leise reden, sie lassen die Türe einen Spalt offen. Wenn es nicht hilft und die Angst ganz dick und schwer wird, kann ich nicht anders. Ich muss weinen, schon nur um zu sehen, ob jemand kommt. Mama oder Papa erlösen mich, holen mich vielleicht sogar in ihr Bett. Doch das tun sie erst, wenn ich ganz fest weinen muss, wie nach den bösen Träumen, in welchen ich verfolgt werde und nicht schnell genug rennen kann und solche Sachen. Mama spricht dann die Zauberworte „Das war nur ein Traum, alles ist gut“, nimmt mich mit in ihr Bett und ich schlafe selig ein, weil sie mich beschützen. Ich mag solche dummen Träume nicht, geht weg!

Die Träume tun dir nichts, kleine Seele, im Gegenteil. Sie zeigen dir, was dich unbewusst beschäftigt. Das fällt dir tagsüber nicht auf, während du herumtobst, konzentriert spielst und dabei von Eindrücken förmlich überschwemmt wirst. Doch im Schlaf, wenn deine Sinne ruhen, kommst du in Kontakt damit, eben auch mit deinen tiefsten Ängsten, Hoffnungen, Wünschen. Da wird verdaut, was du tagsüber erlebst, es wird sortiert, ausgewertet und im Unterbewusstsein als Erfahrung abgespeichert, damit du bei Bedarf instinktiv darauf zurückgreifen kannst, ohne lange überlegen zu müssen. Das schafft Platz im Kurzzeitspeicher, so dass du tagsüber aufnahmefähig bleibst und unendlich viel Neues lernen kannst. Was du im 3. Haus alles lernst, wird im 4. Haus verarbeitet und abgespeichert. Doch dazu musst du schlafen, kleine Seele, umso mehr, je beeindruckender das Geschehen ist. Deshalb schläft ein Säugling mehr als ein Erwachsener, der schon einiges erlebt hat und nicht mehr so leicht zu beeindrucken ist wie du.

Es funktioniert so ähnlich wie der Staubsaugerroboter deiner Eltern, der zur Dockingstation zurückkehrt, um seine Batterien aufzuladen, nachdem auch er sich in der Stube ausgetobt hat. Der Staubsaugerroboter hat kein Problem damit, ‚schlafen zu gehen‘, er denkt nicht darüber nach und tut es einfach. Du hingegen kannst nur richtig andocken und dich aufladen, wenn unterdessen jemand deinen Schlaf bewacht und darauf achtet, dass dir nichts passiert, denn ...


Schutz und Geborgenheit der ‚Herde‘
… die Angst, verlassen und ausgestoßen zu werden und vor anderen Bedrohungen, ist gar nicht so abwegig. Als Kleinkind bist du weit davon entfernt, dich selbst um dein Überleben kümmern zu können, bist abhängig von liebevoller Betreuung von außen. Auch wenn die Bedrohungen heutzutage nicht mehr dieselben sind wie zur Zeit unserer Urahnen – wir stehen längst nicht mehr auf dem Speisezettel wilder Tiere –, so ist das ‚Reptilienhirn‘, das älteste Areal deines Gehirns (der Hirnstamm) immer noch aufs Überleben getrimmt. Dein Gefühl von Bedrohung ist also berechtigt, es ist dein Überlebensinstinkt, der sich meldet. Doch so ganz hilflos bist du nicht. Damit du die Zuwendung erhältst, die du brauchst wie die Luft zum Atmen, hast du deine Stimme erhalten. Und wenn du weinst, weckt das einen weiteren Instinkt, den Mutterinstinkt, auf den nicht nur Mütter reagieren. Das garantiert, dass ein Säugling oder Kleinkind wie du notfalls auch Fremde dazu bringen kann, sich zu kümmern. Also weine ruhig, suche die Nähe vertrauter Personen, damit du gut schlafen, verdauen und regenerieren kannst. Gut, dass du Teil einer Herde bist, deiner Familie, sie bietet Schutz und Sicherheit. Genieße die Fürsorge deiner Eltern, sie wird dir schon bald zwischendurch auf den Keks gehen, je selbständiger du wirst. Doch ohne ihre Zuwendung könntest du jetzt weder loslassen noch abschalten, wärst ständig unter Strom. Das wäre purer Stress für dich und das Leben somit alles andere als lebens- und liebenswert. Wie soll man darin heimisch werden und sich verwurzeln, wenn man nicht zur Ruhe kommt? Deshalb bilden wir Rudel wie die Wölfe. Gemeinsam sind wir stärker.


Auf der Seelenebene verbunden
Meine Mama hat heute geweint! Da musste ich auch weinen. Die Tränen kamen einfach so heraus, wie von selbst. Habe ich etwas Böses gemacht? Habe ich sie verletzt? Sonst lacht sie immer oder lächelt wenigstens und schaut mich ganz lieb an. Und jetzt weint sie wie ein Baby. Hat sie mich nicht mehr lieb? Sollte ich weglaufen und mich verstecken oder sie trösten, so wie sie das bei mir immer macht? Ach ist das verwirrend, was mache ich bloß?

Keine Bange liebe Seele. Du hast nichts falsch gemacht und falls doch, natürlich liebt sie dich. Auch Erwachsene sind manchmal traurig und weinen, oder werden wütend, sind besorgt, haben Angst. Wir sind fühlende Wesen, ständig berührt und bewegt uns etwas und wir einander, umso mehr, je näher wir einander sind. Die Herde ist wie ein einziger Organismus, der zwar aus Individuen besteht, die jedoch seelisch miteinander verbunden sind. Du kannst dir das vorstellen wie Bäume oder Pilze. Scheinbar stehen sie einzeln im Wald, doch schaust du unter die Oberfläche, siehst du ein ganzes Wurzelwerk, über das sie miteinander verbunden sind und sich sogar austauschen können. Die Menschen um dich herum, deine Eltern, Geschwister, alle die dir nahe stehen – es brauchen keine Blutsverwandten zu sein – sind über ein emotionales Netzwerk miteinander verbunden. Und du bist ein Teil davon. Sehen kannst du es nicht, aber fühlen, deshalb bewegen dich nicht nur deine eigenen, sondern auch die Gefühle anderer. Du fühlst sie wie deine eigenen, was manchmal angenehm ist und manchmal überhaupt nicht. Doch Gefühle sind wie sie sind, weder gut noch schlecht, und Widerstand ist sowieso zwecklos. Wasser kann sich nicht gegen die Wellen wehren, die ein hineinfallender Stein auslöst. Als deine Mutter weinte, wirkte das wie der Stein, der ins Wasser fällt. Es löste Gefühle aus, die du nicht einordnen kannst. Lass dich davon nicht irritieren und schmoll nicht. Strecke lieber die Hand aus und tröste sie, das ist der bessere Impuls, denn, noch falls tatsächlich du sie zum Weinen gebracht haben solltest, kannst du so die Wogen glätten. Eine liebevolle Geste löst bei beiden gute Gefühle aus. Auf diese Weise kannst du ganz leicht gute Emowellen durchs Netzwerk schicken. Auch wenn diese Verbundenheit nicht immer lustig ist und du dich manchmal verletzt und unverstanden fühlst, stell dir vor, du hättest sie nicht. Es gäbe nicht nur keinen Schutz, du könntest auch nicht groß und stark werden wie ein Baum. Aus dem Samen, der du warst, wächst nichts oder nur kümmerlich und er wird beim ersten Sturm vom Winde verweht. Wurzeln sind also nichts anderes als emotionale Verbundenheit. Es sind die Menschen, die du liebst, dein Rudel, das dich erst am, später im Leben hält. Und genau da im 4. Haus, aus dieser Verbundenheit entspringt sachte und unbemerkt auch die Fähigkeit zu lieben. Hier liegt ihre Quelle.

Schlaf schön, kleine Seele, tauche tief ein ins größte Kollektiv, das es gibt, ins Unterbewusstsein, damit du dich morgen voller Energie frisch und munter auf einen neuen Tag und auf die nächste Herausforderung einlassen kannst. Im 5. Haus dein Leben nach Herzenslust formen und gestalten kannst du nur, wenn du nicht alle Hände voll damit zu tun hast, ums nackte Überleben zu kämpfen.



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